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Dirigentin Ekaterina Antonenko im Interview

 

Die junge Dirigentin hat durch ihre Familiengeschichte einen sehr persönlichen Bezug zum Programm »Jenseits der Worte«, das sie am 9. November in Dresden dirigiert.

 

Liebe Ekaterina Antonenko, am 9. November 2022 gedenken wir mit unserem Konzert der Opfer der Pogromnacht von 1938. Bereits seit vielen Jahren ist dieses Konzert Tradition für den Dresdner Kammerchor. In diesem Jahr haben Sie die Leitung übernommen.

 

Woran (ge)denken Sie persönlich zu diesem Zeitpunkt?

 

Ich komme aus einer jüdischen Familie, die alle schrecklichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts erlebt hat. Mein Urgroßvater war Kantor in der Synagoge in mestechko Kotelnya, Zhytomyr (Ukraine). Dort hatte die Familie schon unter den Zarenpogromen gelitten. Zwei Cousinen meines Großvaters wurden vergewaltigt und getötet. Mein Großvater konnte neben Russisch auch Jiddisch und Ukrainisch sprechen und sang für mich als Kind viele ukrainische und jüdische Lieder, auf Jiddisch und auch auf Hebräisch.

Die Familie meiner Großmutter kommt aus Sibirien und hatte ebenfalls eine bewegte und traurige Geschichte. Die Familie wurde getrennt. Eine Schwester meiner Großmutter war während des Zweiten Weltkriegs in einem sowjetischen Lager, ihre Tochter und Enkelin wurden von den Nazis in eine Brunnenanlage geworfen; davon erfuhr sie erst nach ihrer Befreiung aus dem Lager.

Die andere Schwester meiner Großmutter ist in den 1920er Jahren über Georgien nach Deutschland und später in die USA ausgewandert. Sie ist eine prominente Wissenschaftlerin geworden und konnte meine Großmutter nur noch einmal in ihrem Leben sehen: In den 1960er Jahren ist sie nach Moskau gekommen, wo sich die Schwestern heimlich in einem Hotel trafen. Niemand aus der Familie sollte damals davon erfahren. Aber natürlich ist das eher eine glückliche Geschichte unter den Umständen der Zeit.

 

Was war Ihnen wichtig, als Sie das Programm zusammengestellt und gestaltet haben? Wie ist das Programm entstanden?

 

Die Grundidee des Programms wurde von Dramaturg Oliver Geisler entwickelt: Musikkompositionen zu vereinen, die das Unsagbare der Kriegsschrecken reflektieren und die Sehnsucht nach Frieden ausdrücken. Ich glaube, die gemeinsam ausgewählten Werke des Programms passen sehr gut zu dieser Idee, die auch mir sehr am Herzen liegt.

 

Haben Sie zu einem der Werke einen besonderen Bezug?

 

Alle Kompositionen dieses Programms haben etwas Besonderes. Das zentrale Stück ist Morton Feldmans »Rothko Chapel« für Bratsche, Chor, Solostimmen und Schlagzeug. Hier verbindet sich gleichzeitig Persönliches (die Solo-Bratsche, die Sopransolistin) und Allumfassendes.

Die Chormusik von Alfred Schnittke liebe ich sehr, besonders sein Chorkonzert und die »Bußverse«. Am 9. November werden wir ein kürzeres Stück aufführen: die »Stimmen der Natur« für 10 Frauenstimmen und Vibraphon. Ursprünglich hatte Schnittke dieses Stück für den Dokumentarfilm »Und doch glaube ich« des russischen Regisseurs Mikhail Romm komponiert, eine düstere Collage von Krieg und Zerstörung. Die Frauenstimmen erklingen dann zu einer irreal schön wirkenden Sequenz mit Aufnahmen aus der Natur.

Gemeinsam mit dem Intrada Ensemble pflege ich seit vielen Jahren eine Kooperation mit dem US-amerikanischen Komponisten David Lang. Ich habe für das Konzert in Dresden zwei seiner Werke ausgewählt: »if I am silent« und »Make peace«. Die russische Premiere hatte »Make peace« mit dem Intrada Ensemble unter meiner Leitung im Juni diesen Jahres.

Das Werk von Herman Berlinski weckt Erinnerungen an meine Kindheit: der Klang der hebräischen Sprache erinnert mich an meinen Großvater, wie er mir vorgesungen hat.

 

Was bewegt Sie, wenn Sie ein Konzert zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 in Dresden aufführen?

 

Ich finde es unglaublich wichtig, dass sich die Deutschen so viele Mühe geben, ihre Geschichte zu begreifen. Dies passiert in der russischen Gesellschaft nicht, was schreckliche Auswirkungen hat.

 

Auch die Jugendlichen des Oberstufenchores des Bertolt-Brecht-Gymnasiums Dresden sind am Konzert beteiligt. In der aktuellen Saison arbeitet der Dresdner Kammerchor mit ihnen im Rahmen der Schulchorpatenschaft zusammen. Was ist Ihnen wichtig bei der Arbeit mit Jugendlichen speziell bei diesem Projekt?

 

Ich hoffe, dass es die Jugendlichen inspiriert, zusammen mit den tollen Sängern und Sängerinnen des Dresdner Kammerchores Musik zu machen und in einem Konzert aufzutreten. Dabei werden sie ganz automatisch dazu angeregt, sich individuell über das Thema des Konzerts Gedanken zu machen und über die Geschichte des 20. Jahrhunderts nachzudenken.

 

Das Interview führte Christel Goldbach.

 

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